Johannes Tosin
Das Lied vom Tod
Seine Tante war gestorben. Nicht dass es ihm besonders leid um sie getan hätte, aber schon als Kind pflegte er Kreuze zu malen, wenn jemand gestorben war. Er erfuhr von ihrem Tod am 06.06.06, „the magic Number“, es war ein Montag. Sein Vater hatte es ihm erzählt. Sie war bereits am Samstag gestorben. „Warum hast du mir das erst jetzt gesagt“, fragte er ihn. „Jetzt habe ich es dir ja mitgeteilt“, antwortete sein Vater.
Der Tag, als seine Tante verschied, war ein regnerischer, ein kalter Tag. Es war Anfang Juni und viel zu kühl für diese Jahreszeit. Sie sei schon lange krank gewesen, hatte ihm sein Vater gesagt. Er wusste nicht, ob er sie an ihrem Sterbebett besucht hätte. Als Jugendlicher war er gut mit ihr ausgekommen. Sie war Lehrerin in der Kindergarten-Schule gewesen. Sie hatte seine Schreiberei bemängelt, hatte gesagt, es sei selbstherrlich und interessiere keinen. Vor drei Jahren, als seine Großmutter gestorben war, war der Kontakt abgerissen.
Seine Großmutter war mit 93 Jahren gestorben. Sie war des Lebens überdrüssig. Sie hatte ihren Mann im Zweiten Weltkrieg verloren, und seitdem nie mehr einen Mann gehabt. Sie war die Schnittstelle zur restlichen Familie, hatte ihm oft erzählt, von ihrem verstorbenen Mann, vom Schifahren. Am Schluss wollte sie nicht mehr. Verwendete ihr Hörgerät nicht, da sie nichts mehr hören wollte. Sie war einen Tag vorm Muttertag 2003 verschieden.
Vielleicht sei der Tod nur eine Stufe in ein neues Leben. Vielleicht würden die Menschen wiedergeboren werden. Es gibt kein Leben ohne Tod. Nur er fühlte sich unsterblich.
Manchmal hatte er sich mit dem Vater seiner Tante unterhalten. Der war früher Volksschuldirektor gewesen und sehr bewandert in Geschichte, besonders in der keltischen Mythologie. Er hatte die Kelten sehr verehrt. Er war Mitglied in einem Bund gewesen, wo er mit einem Wikingerhelm in der ihm vertrauten Runde saß.
Er hielt sich gerne auf einer Lichtung im Wald auf. In eine Eiche, die sicherlich 300 Jahre alt war, hatte er die Irminsul-Rune eingraviert, das Zeichen der Stärke. Er pflegte Rituale zu zelebrieren, mit verschränken Armen gegen die Sonne, wobei er Laute ausstieß. Er hatte an das geglaubt, was er mochte. Er hatte immer eine klare Meinung von den Dingen.
Waldlichtungen bringen Ruhe und Bedächtigkeit. Wenn er im feuchten Gras gelegen war, mit Käfern, Schmetterlingen, darüber die Vögel im Flug, fühlte er sich eins mit der Erde. Er war an Krebs gestorben. Die alte Eiche gab ihm Kraft. Die Lichtung mit dem Baum hatte ihm immer aufs neue Lebensfreude gegeben.
Es ist das Lied vom Tod, das allgegenwärtig ist. Für den Vater seiner Tante wäre es wahrscheinlich das Schönste gewesen, wenn er als Waldgeist wiedergekommen wäre. Trieb er sich nun in seinem geliebten Wald herum, war sein Geist in die alte Eiche auf der Lichtung gefahren? Die Irminsul-Rune blieb noch lange nach seinem Tod bestehen. Ein Baumpilz hatte sich über sie gelegt.
Der Tod seiner Großmutter war ihm näher zu Herzen gegangen. Er war ihr Lieblingsenkel gewesen, dachte er zumindest. Sie hatte eine Lungenentzündung erlitten. Mag sein, weil sie im Winter oft so lange auf ihren Sohn hatte warten müssen, der sie mit dem Auto abholte und sie jeden Tag zu seiner Schwester, ihrer Tochter, brachte. Er hatte sie jeden Tag in der Geriatrie besucht. Er vernachlässigte seinen Job, lehnte es ab wegzufahren, bis der Tod sie ereilen würde. Auch seine Frau war öfters bei ihr und ihr Sohn. Ihr Sohn war ein kleiner Karateka. Er hatte ihr Karatekicks vorgeführt, die er soeben gelernt hatte.
Zu Weihnachten, als sie gerade drei Wochen auf der Station gelegen war, hatten sie sie alle drei besucht, gefeiert und ihr ein Modellauto geschenkt. Das schnellste Auto der Welt in den 1930-er-Jahren. Sie hatte sich darüber gefreut. Es sollte sie an ihren Mann erinnern. Seine Großmutter trug meist braunes Gewand. Das Auto war nach ihrem Tod nicht mehr aufgetaucht. Seine Mutter hatte es einem fremden Kind geschenkt.
Ihren Geburtstag hatten sie auch im Krankenhaus verbracht. Sie kamen mit ein wenig Wein vorbei und der Kleinen Zeitung ihres Geburtstages, des 30. Dezember 1909. Diese Zeitung war sein einziges Erbstück gewesen.
Sie erlebte auch noch Silvester. Sie ließen eine Rakete steigen. Er sprach kurz mit dem diensthabenden Arzt. „Sie sind ein guter Mensch“, hatte dieser ihm versichert.
Am Nachmittag vor ihrem Tod hatte er sie alleine besucht. Sie hatte die Augen geschlossen. Er fühlte ihren rasenden Puls. „Sie kämpft jetzt um ihr Leben. Ihr Leben liegt in Gottes Hand“, teilte ihm der Oberpfleger mit. Er hielt kurz ihre Hand, dann ging er.
Abends war auch seine Frau zu ihr gekommen und hatte sich von ihr verabschiedet. Sie wusste, dass sie am nächsten Tag sterben würde. Während sie starb, spielte eine Militärkapelle, das hätte ihr sicher gefallen. Trotz allem war ihr Leben ein erfülltes gewesen.
Einige Tage nach ihrem Tod schenkten seine Frau und er der Geriatrie-Abteilung Blumen und ein bisschen Geld, als Anerkennung. Der Oberpfleger und eine Schwester bedankten sich, zeigten ihnen aber, dass sie nun hier nicht länger willkommen seien. Der Tod seiner Großmutter war der Schlussstrich.
Der Tod ist nur eine Zwischenstufe in ein neues, besseres Leben. Es mag auch schlechter sein, wenn man gesündigt hatte. Davon war er überzeugt. Darum fürchtete er den Tod nicht. Weder er noch seine Frau, die „Irmgard“, genannt „Irma“ hieß.
Vier Monate, nachdem seine Großmutter gestorben war, erlitt seine Schwiegermutter, mit der er sehr gut auskam, eine Verengung der Aorta. Die war sicher schon länger da gewesen, aber ihr Arzt hatte sie erst bemerkt, nachdem sie über Schmerzen geklagt hatte.
Sie kam sofort auf die Intensivstation. Sie wurde bald darauf operiert. Er, ihr Schwiegersohn, hatte sie am Tag vor ihrer Operation besucht und sie scharf und lebenshungrig gemacht. „Passen Sie auf sie auf, sie ist es wert“, hatte er der Schwester verlautbart. „Wie stehen ihre Chancen?“. Die Schwester antwortete nicht. Später erfuhr er, ihre Überlebenschance war bei weniger als zehn Prozent gelegen.
Doch sie überlebte. Und einmal, als seine Frau sich von ihm trennen wollte, redete sie ihrer Tochter gut zu, dies nicht zu tun. Seine Frau blieb daraufhin bei ihm.
Es spielt wenig Rolle, ob man Gott anbetet oder den Herren des Zeichen des Tieres. Jeder, der seine Hände faltet, glaubt. Viele wollen es nicht zugeben. Auch sein Freund nicht, der einen Hund hatte, der „Satan“ hieß. Gäbe es Gerechtigkeit, so müsse jemand darüber wachen.
Gibt es hingegen keine Gerechtigkeit, müsse sich der Mensch alleine durchschlagen. Sich durchzusetzen, das war eine Sache, die ihm nicht so wichtig war. Er konnte es wohl, aber war sich oft zu „schade“ dafür. Lieber hörte er zu und sprach, wenn es vonnöten war. Besonders in Gesellschaft war er leise, da er nicht jeden mochte und daher keine intimen Personalien verraten wollte. Er hatte es sogar gelernt, umgänglich zu wirken.
Als er vom Tod seiner Tante erfahren hatte, verlegte er seine Mittagspause und spazierte ins Lendhafencafé. Ein bisschen langsamer als sonst, da er doch in Gedanken versunken war. Die Lend war schmutzig, algenüberwuchert, wie das Leben, und doch schön.
Im Lokal waren die Leute sehr freundlich, ein wenig freundlicher als sonst. Er trank zwei Campari Oranges, keine zwei dunkle Biere, so wie sonst üblich. Er unterhielt sich mit einem Surfer, ungefragt, unüblich für ihn. Für gewöhnlich redete er nicht und hing seinen Gedanken nach.
Sie sprachen übers Surfen und übers Snowboarden. Der junge Mann schien ein Crack zu sein, er behauptete, er hätte eine eigene Snowboard-Schule. Als er ihm erzählt hatte, seine Tante sei gestorben, wandte der sich ab.
Er ging aus dem Lokal, die Blätter warfen Schatten auf den Boden. Als er aus dem Schatten heraustrat, wechselten Licht und Schatten der Blätter und Bäume. Die Sonne war wieder etwas wärmer geworden. Ihm war ja fast immer kalt.
Er dachte an das Gedicht, das er vor einiger Zeit geschrieben hatte, „Ich sterbe jetzt“.
Ich sterbe jetzt.
Suchte mein Heil im fliegenden Donner.
Durch die Ähren des Weizens laufe ich.
Es erschien ihm jetzt sehr passend. Eigenartigerweise konnte er sich im Büro viel besser konzentrieren als sonst. Er war gespitzt. Abends würde er sich mit einem Freund treffen, nicht weil er Trost brauchte. Dem war nicht so. Nur um ein wenig zu reden.
Der Tod soll eine Erlösung sein? Eine Erlösung wovon? Vom irdischen Leben, das jämmerlich sein kann oder getragen von Liebe oder gebunden in Hass. Es käme nur darauf an, glücklich zu sein. Das war das einzige, was zählte. Davon war er überzeugt.
Er hatte nicht viele Feinde. Sein Onkel hatte nach dem Tod seiner Großmutter mit ihm telefoniert und ihm verraten: „Du hast viele Feinde, aber sie sind im Verborgenen“. Er dachte oft daran in seinem künftigen Leben. Was sein Onkel wohl damit gemeint hatte?
Was er nicht mochte, war Feigheit. Das war für ihn eine der schlimmsten Untugenden. Oft rührt Feigheit aus Angst heraus. Angst vorm Tod, Angst um seine Kinder. Es gibt ja nichts Schlimmeres, als wenn die Kinder vor einem selbst sterben.
Heute war er alleine, auch wenn viele Menschen um ihn herum waren. Ein Tier versteckt sich, bevor es stirbt. Es will für sich sein. Das lag ihm nahe. Er verstand diese Haltung sehr gut.
Wenn er einen Wunsch frei hätte, so wünschte er sich nicht ewiges Leben, sondern dass es seiner eigenen kleinen Familie gut ginge. Er ließ sich nicht leicht aus der Bahn werfen. Er sprach wenig, unter Alkoholeinfluss noch weniger, womöglich wurde er genau deshalb gemocht. Viele Leute fürchteten ihn auch, da sie nicht wussten, woran sie bei ihm waren. Er verlangte nicht nach Mitleid, denn er litt nicht.
Der Engel auf seinem Rücken würde ihm schon beistehen. Der Engel mit dem roten Kleid, den grünen Augen, blonden langen Haaren und den goldenen Flügeln, nicht Frau, nicht Mann.
Er passierte sein Elternhaus, einen weißen Loos-Bau mit roten Fensterrahmen. Im Inneren, erinnerte er sich, beherrschten große Spiegel die Räume, in denen sich seine Eltern nicht mehr sahen.
Es gibt ja keine „Engelin“, auch keine „Teufelin“. Sie sind metaphysische Wesen. Das eine kann nur mit dem anderen existieren, als Ausgleich. Engel sind gütig und können beschützen, aber sie richten auch, genauso wie der Teufel. Das Gute und das Böse existiert nur in den Köpfen der unvollkommenen Menschen.
Er war sehr froh über seine Frau und seine zwei Kinder, den elfjährigen Sohn, die 23-jährige Tochter, die er mit seiner ersten Frau hatte. Seltsamerweise kam er jetzt, nicht nur heute, mit allen gut aus. Mit seiner ersten Frau konnte er seit fast 20 Jahren wieder reden. Das gab ihm schon ein gutes Gefühl.
Seine zweite jetzige Frau war ein Bauernkind. Sie war auf einem Bauernhof im Gurktal in 1000 Meter Höhe aufgewachsen. Ihr Vater war bei einem Arbeitsunfall verletzt worden und gestorben, als er gerade 43 Jahre alt war und seine Tochter, die Frau des Erzählers, fünf. Die Mutter brachte die Kinder dennoch gut durch, mit versteckter Leidenschaft, die sie alle besaßen.
Da gab es auch noch den schwer behinderten Bruder, Hermann. Sie hatten sich immer um ihn gekümmert. Seitdem er bei einem bekannten Kinderpsychiater gewesen war, sprach er kein Wort mehr. Nichtsdestotrotz schien Hermann mit seinem Leben zufrieden, spielte mit einer Schnur, aß gerne – nur stückchenweise, da er keine Zähne mehr hatte, hörte Radio und sah fern, am liebsten Zeichentrickfilme.
Der Tod hat viele verschiedene Facetten. In jedem Fall ist er ein Abschluss. Man kann elendig unter Schmerzen sterben oder lebenssatt. Der Mensch wird begraben, man wirft Erde auf den Sarg oder spuckt dreimal aus, als kleines Opfer. Der Körper vermodert, wird von Würmern zerfressen. Gäbe es eine Seele, würde sie sich erheben und gegen den Himmel steigen, und wachen über die Lebenden und die Toten.
Es gab nur wenige Menschen, die er mochte. Aber die gaben ihm ihr Herz, wenn er es brauchte. Er hatte schon oft gehört, dass er ein wundervoller Mensch sei. Früher war er das sicherlich nicht. Er war gewalttätig gewesen, stur, auf seinen eigenen Vorteil bedacht. Er könnte ein noch besserer Mensch sein, nur – es gibt ja den Spruch „All zu viel ist ungesund.“ Also hielt er sich zurück. Zeigte nicht sofort, wenn ihm jemand ans Herz gewachsen war.
Das spielte im Moment keine große Rolle. Immerhin hatte eine Verwandte der Tod ereilt. Und irgendwie ist jeder es wert, dass man für ihn eine Kerze anzündet. Das man später sein Grab pflegt, weiße Blumen darauf stellt. Das nicht den professionellen Grabpflege-Dienst erledigen lässt.
Er wusste nicht, was die anderen über den Tod seiner Tante dachten. Was eigenartig war, war, dass seine Eltern am Tag vor ihrem Tod mit Schampus und belegten Brötchen gefeiert hatten. Es hatte ihn niemand informiert, was es Besonderes gab, darum hatte er diesem Beisammensein nicht beigewohnt.
Sein Vater hatte ihm auch eher beiläufig von ihrem Tod erzählt. Natürlich war der Tod gewöhnlich, aber doch ein einschneidendes, irreversibles Erlebnis. Die Toten kommen nicht in ihrer ursprünglichen Form zurück.
Sein Vater, das war ein eigenes Thema. Vor vier Jahren hatte er zu erblinden gedroht. Er wurde plötzlich ganz weich. Die Operation auf beiden Augen war erfolgreich. Sie setzten ihm Linsen ein. Wie lange die halten würden, wusste er nicht, aber doch bestimmt einige Zeit. Danach war er wieder der Alte, das heißt überlegt, unbeherrscht, schlau. Davor hatte sein Vater die größte Angst: zu erblinden. Für ihn ging die Sache dennoch gut aus.
Er freute sich für ihn, obwohl er zu seinem Vater kein inniges Verhältnis hatte. Kommt Zeit, kommt Rat, das ist gewiss. Er würde nicht ewig auf sein Glück warten. Das Glück kommt wie ein Weltrekord. Du darfst es nicht suchen, es muss zu dir kommen.
Die Nacht senkte sich. Die Scheinwerfer der Autos erhellten das Dunkel. Ihm taten die Hüften weh vom vielen Umhergehen. Der eisige Nachtwind blies, es tröpfelte. Es war, als ob der Himmel weinte.
© Johannes Tosin
Letzte Aktualisierung: 07.09.2024, 22:07 Uhr
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