Manuel Göpferich
Eine einsame Insel
Die Fähre legte an den Steg an. Ein Fährmann verwendete ein Holzbrett, um einen Übergang für die Passagiere zu schaffen. Eine blonde Frau und ihre Tochter gingen über die wackeligen Bohlen. Als beide festen Boden unter den Füßen hatten, meinte die Frau: „Da wären wir also.“
Vor ihnen lag eine kleine Insel, auf der es vier oder fünf Häuser gab. In der Broschüre stand, dass dies ein Paradies für Stipendiaten und Geschäftsleute sei. Das mediterrane Klima solle für Entspannung und Erholung sorgen. Ihr Chef hatte ihr dieses Geschenk gemacht, wobei sie mehr oder weniger keine Wahl gehabt hatte. Ihre Tochter konnte sie nicht zu Hause lassen, sie war erst zwölf Jahre alt, und auf die Schnelle einen guten Babysitter zu finden, stellte sich als unmöglich heraus.
Ohne lange zu zögern gingen sie den Hügel hinauf. Das ihnen zugewiesene Haus schien sehr modern eingerichtet zu sein. Die weiße Fassade und die dunklen Fenster- und Türrahmen ergaben einen guten Kontrast. Aus ihrer Hosentasche holte die Mutter einen Schlüsselbund hervor. Sie schloss die Tür auf. Das Wohnzimmer strahlte im Licht der Mittelmeersonne, die sich auf den Möbeln spiegelte. An der Wand hingen kostbare Bilder. Es war nicht verwunderlich, dass es Kabelfernsehen und sogar einen Internetanschluss gab. Der Besitzer hatte an alle Vornehmlichkeiten des Lebens gedacht, selbst in der schwarzen Designerobstschale befanden sich frische Früchte. Sie schloss ihren Laptop an und machte sich an die Arbeit, während ihre Tochter im Wohnzimmer fernsah.
Am Abend gingen sie am Strand spazieren. Die Stille war atemberaubend, lediglich das Rauschen des Meeres unterbrach ab und an die Ruhe. Mutter und Tochter wollten sich die Insel genauer ansehen. „Da, sie doch“ Das Mädchen zeigte auf eine Person die ebenfalls die Strandpromenade entlang lief. Sie kam immer näher. Schließlich entpuppte sich die Person als ein Mann, der um die dreißig Jahre alt war. Etwas zaghaft sprach er sie an: „Sie sind die neue Mieterin?“
„Ja, ich bin geschäftlich hier, Aktienmodelle und Steuerberatung.“
„Ich bin Romanautor. Ein Aufenthaltsstipendium erlaubt mir, hier leben zu dürfen, bis mein Projekt abgeschlossen ist. Wenn sie etwas brauchen, lassen Sie es mich wissen.“
„Danke, wir kommen sehr gut alleine zurecht.“
„Ich verstehe. Das ist ihre Tochter. Dreizehn Jahre?“
„Zwölf.“
Er reichte ihr die Hand und sagte: „Ich bin Markus Schmidt.“
„Samantha Pennington, sehr erfreut.“
Allerdings erwiderte sie die Geste nicht, nahm ihre Tochter an die Hand und verabschiedete sich mit den Worten: „Man sieht sich.“
Markus rief ihr nach: „Ganz sicher – die Insel ist sehr klein.“
Inzwischen hatte sich der Himmel in ein rotes Tuch gehüllt, das den Sonnenuntergang ankündigte. Die beiden gingen in ihr Haus zurück, wo Samantha das Abendessen zubereitete. Während sie den Kochtopf aus Edelstahl auf ein Brett stellen wollte, fragte ihre Tochter: „Warum hast du mit dem Mann nicht geflirtet; er ist doch süß?“
Ihre Mutter antwortete ihr prompt: „Der Mann ist ein Schriftsteller.“
„Das sagst du jedes Mal.“
„Sei nicht so rechthaberisch.“
„Ärzte, Anwälte, immer gibst du ihnen keinen Chance.“
Nun musste sie sich rechtfertigen, was sie lieber nicht tat und stattdessen befahl: „Iss deine Suppe.“
Am nächsten Morgen zerbrach sich Samantha bereits in der Frühe ihren Kopf über ihrer Arbeit. Auf dem gewaltigen Tisch aus Buchenholz stand ein Laptop. In einen Halbkreis darum waren Akten und Blätter verstreut. Ihr gelangweilter Blick flog über den Tisch. Was ihre Tochter wohl gerade tun würde; sie hatte sie heute noch nicht gesehen. Gerade in diesem Augenblick kam das junge Mädchen zur Tür herein. „Ich habe Markus zum Mittagessen eingeladen.“
Samantha erwachte aus ihrer Trance: „Du hast was getan?“
Leider war ihre Tochter schon in die Küche gerannt.
Nach ungefähr einer Stunde ertönte das Geräusch der Türklingel. Der dunkelhaarige Mann wartete vor der Haustür. Samantha öffnete die Verriegelung. Markus schaute auf die Tochter, die argwöhnisch grinste. „Es tut mir Leid. Ich dachte sie hätten mich eingeladen.“
„Nein, ich freue mich über den Besuch. Kommen sie erst mal herein.“
Alle drei begaben sich zu Tische, wo bereits alles hergerichtet war.
„Wenn sie nichts dagegen haben, würde ich gerne ein Tischgebet sprechen.“ Er faltete seine Hände. „Wir danken...“
Er wurde jäh unterbrochen, weil Samantha wie ein kleines Schulmädchen kicherte.
„Was finden sie denn so lustig?“
„Nichts, machen sie weiter. Es ist nur so, dass ich so gut wie nie bete.“
Er fuhr fort. Zwar konnte sie sich das Lachen nicht verkneifen, jedoch vertuschte sie es, indem sie ihre Hände vor den Mund hielt. Nachdem er das Tischgebet gesprochen hatte, konnte die Mahlzeit beginnen.
„Du schreibst Bücher?“ Mit diesen Worten unterbrach die Tochter die aufkommende Stille.
„Ich bin freiberuflicher Schriftsteller. Hauptsächlich schreibe ich Romane und Artikel.“
Samantha mischte sich in den Dialog ein: „Davon kann man leben?“
„Sehr viel verdient man als Autor nicht. Mit dem Erlös aus dem Bücherverkauf kann ich ganz gut leben. Momentan erhalte ich eine Aufenthaltsstipendium, das mit sechshundert Euro pro Monat dotiert ist.“
„Wie kommt man zu so einer Förderung?“
„Ich habe mich auf eine Ausschreibung beworben. Der Aufenthalt auf dieser Insel ist für mich kostenlos. Im Gegenzug muss ich einen Arbeitsbericht verfassen und zwei Autorenlesungen auf dem Festland halten. Jetzt reden wir aber von ihnen.“ Er sah sie wohlwollend an.
„Da gibt es nicht viel zu berichten. Ich bin seit drei Jahren von meinem Ehemann geschieden. Das Sorgerecht habe ich erhalten. Nach meinem Studium habe ich mich entschieden, Börsenmaklerin zu werden.“
„Ich bin müde.“ Die Tochter stand auf, gähnte und streckte sich. Samantha stand auf und holte aus dem Kuchenschrank eine Flasche Spätburgunder hervor. Die Flasche stelle sie auf den Tisch, dann nahm sie ihre Tochter bei der Hand und geleitete sie in ihr Bett.
Am nächsten Morgen war Samantha als erste aufgestanden. Der Tochter bot sich ein ungewöhnliches Bild: Ihre Mutter bereitete das Frühstück zu. Es war nicht die spartanische Mischung aus Müsli und Milch, die sie jeden Morgen zusammenrührte, sondern ein Büffet. Man konnte noch eine erstaunlich Beobachtung machen. Ein geheimnisvolles Lächeln schmückte ihre Lippen. Lange brauchte die Tochter nicht, bis sie verstand, was geschehen war. Also stellte sie sodann einige unverfrorene Fragen: „Ihr seid ein gutes Paar.“
Samantha schien diese Äußerung zu ignorieren.
„Du darfst dir diesen Mann nicht entgehen lassen.“
„Hast du was gesagt, mein Schatz?“
„Ja, dass du dir dieses Mann nicht entgehen lassen sollst.“
„Du kennst mich doch. Er reist von Ort zu Ort wie wir.“
„Habt ihr euch geküsst?“
„Seit wann lasse ich mich von einem zwölfjährigen Kind in Beziehungsangelegenheiten beraten?“
„Nun sag schon.“
„Vielleicht haben wir uns geküsst und eventuell hat es mir auch gefallen.“
„Warum bleibst du nicht für immer auf dieser schönen Insel? Immerhin gibt es kaum einen Ort auf der Welt, der romantischer sein könnte.“
Sie lachte und streichelte ihr über den Kopf. „Ihr Kinder habt eine so blühende Fantasie. Wovon sollten wir den leben?“
„Du hast doch mehr als eine Million.“
„Natürlich. Das Geld befindet sich in Aktienfonds und Wertpapieren.“
Ihrer Tochter fiel es nicht schwer zu kontern, da sie einiges über Geldgeschäfte von ihrer Mutter gelernt hatte. „Stell dir das mal vor. Nie wieder Aktien und Kurse, kein Stress, nur Ruhe und Entspannung. Wir drei könnten eine Familie sein.“
„Eigentlich habe ich hiervon immer geträumt. Luftschlösser. Es geht ja doch nicht.“
Urplötzlich sprintete ihre Tochter in das Esszimmer, wo der silberfarbige Laptop stand. Dieser schnappte sie sich und rannte damit zum Balkon.
„Zum Teufel noch mal, was hast du damit vor?“ Die Wut stand ihr ins Gesicht geschrieben. Gerade als sie den Satz beendet hatte und neben ihrer Tochter stand, konnte sie beobachten, wie das Hightech-Gerät in den Fluten unterging. Auf der glänzenden Oberfläche spiegelte sich die sizilianische Abendsonne. Bestürzt sah sie ihrem Laptop nach. Die Tochter rechnete nun mit einer bitteren Abmahnung und Ohrfeigen. Unverhofft machte sich auf Samanthas Gesicht ein Schmunzeln breit. „Meine Tochter, das hast du gut gemacht.“
Manuel Göpferich, 24.08.2006
Letzte Aktualisierung: 07.09.2024, 22:07 Uhr
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