Stefan Fuhrmann
Parthenogenese

Urplötzlich öffneten sich meine Augen. Blind starrte ich auf die Phantasmagorien an der Decke über mir. Sekunden vergingen, bis die Realität an Substanz gewann und das Zwielicht durchbrach. Eine nackte Glühlampe hing an einem Stromkabel herab und es herrscht eine vollkommene Stille, wie man sie in der Krypta einer Kathedrale antrifft.
Wo bin ich? Was ist passiert?
Ich versuche den Kopf zu drehen, doch mein Körper verweigert den Dienst und die Schmerzen lassen jeden Nerv vibrieren. Ein stummer Schrei haftete an meinen Lippen. Wie paralysiert lag ich da, kein Muskel gehorchte und eine aufkommende Panik schnürte mir den Hals zu.
Aus den Augenwinkeln erkenne ich ein Fenster. Vorhänge, die vor langer Zeit einmal weiß waren, der Rollladen ist unten. Daneben ein Stuhl, auf dem eine Frau sitzt, schlafend, den Kopf auf die Seite gelegt. Keine Tür in Sichtweite. Meine Kräfte schwinden. Dunkelheit, gleich einem Vorhang am Fenster, fällt vor meinen Augen herab. Unter großen Schmerzen presse ich die Luft aus den Lungen.
Übergangslos erschienen verschwommene Bilder, eine Diashow des Schreckens, im Theater des Todes. Ärzte in blutbesudelten Kitteln, ein Klumpen Schrott, der vormals ein Auto war. Darin hängt ein nicht mehr zu identifizierender Körper, wie ein betrunkener Gast an der Theke. Die Bilder überlagern sich … Schreie, Blut … Zärtlich fährt weiche Haut über meine Stirn, Worte werden mir ins Ohr geflüstert, deren Sinn ich nicht verstehe … meine Erinnerung verweigert sich, ähnlich einer defekten Festplatte am PC … ein Gefühl des Ertrinkens bemächtigt sich meines Körpers.

„Langsam, nicht so hastig!“ Die Stimme des Mannes ist ruhig und gefasst. Er steht neben meinem Bett und mustert mich aufmerksam. Sein Gesicht füllt fast mein gesamtes Sichtfeld aus. In der Hand hält er ein Glas mit Strohhalm, aus dem ich gierig die kalte Flüssigkeit sauge.
„So ist es gut. Und nun ruhen Sie sich aus! Die Schwester wird auf Sie aufpassen, hier sind Sie absolut sicher.“
Ich versuche zu sprechen, aber nur ein unbeholfenes Krächzen kommt über die Lippen. Höllische Schmerzen toben im Hals und der Lunge. Die Muskeln meines Körpers zucken hilflos, bei dem Versuch mich zu bewegen. Ein Gefühl, als würden Unmengen von Ameisen in mir hausen, mich zerfressen.
Bin ich gelähmt? Wie ein Stromschlag jagte dieser Gedanke durch meinen Kopf und entzündete in jedem Winkel einen Flächenbrand.
„Beruhigen Sie sich! Ich weiß, Sie haben viele Fragen, doch zuerst müssen Sie kräftiger werden.“ Als ich seine Stimme höre, tauchen erneut bizarre Bilder vor meinen Augen auf. Ich sah den zertrümmerten Wagen und diesen vormals menschlichen Körper, höre das kreischen von Metall.
„Später haben wir noch genügend Zeit um über alles zu
Reden.“ Der blonde Mann lächelte und schob sich seine Brille auf der krummen Nase zu Recht. Dann verschwand er.
„Sollte etwas sein, rufen Sie mich sofort an, Schwester. Ist das klar?“ Seine Stimme, losgelöst von jeder Emotion, dröhnte noch lange in meinen Ohren nach. Ein stechender Schmerz breitete sich im Kopf aus, fraß sich immer tiefer, wie ein gieriger Wurm.
„Jawohl!“ Die Schwester setzte sich auf ihren Stuhl am Fenster, nahm eine Zeitschrift von dem kleinen Beistelltisch daneben und las darin ungerührt weiter, unter rigoroser Missachtung meiner Person.

„Was ist passiert, Doktor?“ Meine Stimme klang noch immer ungelenk und ein fürchterliches Kratzen im Hals behinderte jedes einzelne Wort.
„Sie hatten einen schweren Autounfall vor ungefähr zwei Monaten. Seitdem sind Sie hier in meiner Klinik.“ Doktor Frank, so stellte er sich vor, lauschte aufmerksam meinen Worten.
„Aber ich erinnere mich nicht daran, an nichts mehr …“
„Es war ein schwerer Unfall, sie hatten furchtbare Kopfverletzungen. Ihr Leben hing an einem seidenen Faden!“
Zögernd fuhr er sich durch seine blonden, strähnigen, Haare. „Es ist durchaus möglich, dass Sie einen lebenslangen Schaden davon tragen werden, und sich nie mehr an die Zeit vor dem Unfall erinnern können.“ Mein Körper verkrampfte sich, ich erfasste nur sehr langsam die Worte des Doktors. „Wir sind nur eine kleine Privatklinik, aber dafür eine sehr gute. Noch ist nichts verloren, geben Sie uns und sich selbst noch ein wenig Zeit. Und nun schlafen Sie weiter!“
Mühsam verjagte ich den Frosch aus meinem Hals.
„Noch eine Frage“, der Doktor verharrte. „War ich alleine in dem Wagen … beim Unfall?“ Das Bild der zerschmetterten Person erschien immer öfter vor meinen Augen, Tag und Nacht, überall.
Doktor Frank rieb sich die Nase und spielte dabei einen Moment mit der Brille, ehe er antwortete. „Leider nicht!“ Traurig schüttelte er den Kopf. Einzelheiten waren mir egal, da sowieso jedwede Erinnerung an andere Personen fehlte.
„Wieso bin ich immer noch ans Bett gefesselt?“
„Es kommt bei Ihnen zu gelegentlichen Anfällen. Wir vermuten, das liegt an einer Schädigung des Gehirns.“ Doktor Frank dachte einen Moment nach. „Uns fehlen immer noch einige Ergebnisse, da nicht alle Untersuchungen in Ihrem geschwächten Zustand durchgeführt werden konnten. Doch das holen wir jetzt alles nach! Und da ihr Körper sowieso weiterhin fixiert bleiben muss, ist es so für alle
einfacher.“
Ein verschmitztes Grinsen huschte über sein Gesicht. Kurz darauf verschwand er aus dem Zimmer und die schweigsame Schwester teilte sich mit mir wieder das Zimmer. Ihre grünen Augen warfen mir zuweilen ängstliche Blicke über den Rand der Zeitschrift zu.

Die Tage vergingen und nach und nach heilten meine letzten Wunden ab. Vier Wochen später durfte ich endlich auf eigenen Beinen stehen, wenn auch nur mit Krücken. Ab da bekam ich regelmäßig Gymnastik und Sport verordnet. Mein Trainer war ein schweigsamer, muskelbepackter Koloss. Schon nach kurzer Zeit spürte ich die Rückkehr von kräftigen Muskeln und den Schweiß auf der Haut. Ich fühlte mich wie ein neuer Mensch!

Kurz nach meiner Besserung erklärte mir Doktor Frank, dass niemand mich identifizieren konnte. Auch Anzeigen in den Tageszeitungen blieben bisher ohne jedes Ergebnis. Bei dem Unfall wurden keine Ausweispapiere oder andere Unterlagen gefunden. Der Wagen wurde als gestohlen bei der Polizei geführt.
Eine 'Gegenüberstellung' meiner Person in einem Spiegel brachte auch keine neuen Erkenntnisse. Mir war die Person darin vollkommen unbekannt.
„Ich werde Sie ab heute Manfred nennen. Ist Ihnen das recht?“
„Ein Name ist so gut wie jeder andere, Doktor.“ Das Gefühl ein Fremder zu sein verflüchtigte sich, und das Gesicht im Spiegel hatte ab jetzt wieder eine Identität, wenn auch nur eine sehr kleine.
Zufrieden knetete Doktor Frank seine Hände. Eine nervöse Zuckung, genau an seiner linken Schläfe, verzog ihm seit einigen Tagen den Augenwinkel. Ich vermutete eine Überarbeitung des Doktors, nichts Besonderes.
„Schön! Gleich kommt Ihr essen, danach schlafen Sie bitte. Wir haben Morgen einen langen Tag vor uns. Ich möchte Sie einigen Personen vorstellen, die Ihnen weiterhelfen können.“
Ich nickte und versuchte die Kopfschmerzen zu verdrängen, die im Hintergrund lauerten. Der Doktor verschwand aus meinem Zimmer, und kurz darauf erschien die ängstliche Schwester mit meinem Essen.
„Warten Sie, ich nehme Ihnen das Tablett ab.“
„Nein, bleiben Sie mir vom Leibe … Chutriel …“ Ich verharrte wie vom Blitz getroffen. Die Frau zitterte am ganzen Leib, ihre Augen weit aufgerissen. Wie ein Tier in Todesangst.
„Noch einen Schritt weiter und ich schreie um Hilfe!“ Ihre schrille Stimme dröhnte in meinem Kopf.
„Wie Sie wünschen. Ich bleibe hier stehen und bewege mich nicht vom Fleck!“
Scheppernd landete das Tablett auf dem Tisch und ohne eine Sekunde zu zögern, stürmte sie mit kalkweiser Haut nach draußen. Mit einem Knall flog die Tür hinter ihr ins Schloss.

„So, Manfred, bitte setzen Sie sich in den Rollstuhl.“
„Wieso? Was haben Sie vor?“ Misstrauisch sah ich den Doktor an. In der Nacht hatte ich erneut von der blutüberströmten Leiche geträumt, und war dementsprechend angespannt. Nur, diesmal sprach dieses Etwas mit mir!
„Wie ich Ihnen gestern schon sagte, möchte ich Sie einigen Personen vorstellen.“ Er nickte mir freundlich zu und zeigte lächelnd auf den Rollstuhl. „Es ist nur zu Ihrer eigenen Sicherheit, Manfred.“
Ein seltsames Gefühl erfasste meinen Magen, als ich mich langsam in den Stuhl gleiten ließ. Bis auf die Kopfschmerzen, die mich innerlich zermürbten, fühlte sich mein Körper so kräftig wie schon lange nicht mehr an.
„Sie möchten doch niemanden Verletzten, oder?“
„Nein, Doktor!“
Zufrieden legte der Arzt seine Hand auf meine Schulter, ich spürte ein leichtes Zittern darin.
„Für was sind die Fesseln?“
Erneut zögerte er. „Sie haben immer noch Ihre Anfälle, erinnern Sie sich nicht?“
„Schon, doch es ist recht lange nichts mehr passiert.“ Meine Verwirrung nahm zu und ich schüttelte nur den Kopf.
„Wir werden das mit der Zeit in Ordnung bringen, vertrauen Sie mir!“ Kleine Schweißperlen sammelten sich auf seiner Stirn, als er meine Arme und Beine mit den Lederriemen am Rollstuhl fixierte. Doktor Franks blaue Augen sahen mich unruhig unter seiner Brille an. Ein angespanntes Lächeln spielte um seinen Mund.
„Wenn es Ihnen zu viel wird, dann sagen Sie es mir, und ich bringe Sie sofort in Ihr Zimmer zurück.“
In Gedanken versunken nickte ich erneut, ehe der Doktor mich samt Rollstuhl durch den langen Flur schob. Wir begegneten niemanden! Erst jetzt realisierte ich, dass außer mir scheinbar sonst niemand in der Klinik stationiert war.
„Wo sind eigentlich die anderen Patienten?“ Ich schluckte schwer, ein bitterer Geschmack erfüllte meinen Mund.
„Zurzeit sind Sie der Einzige, Manfred. Aber bald werden es mehr werden. Viel mehr!“ Ein Wahnsinniges Kichern drängte aus Doktor Frank heraus. Gleichzeitig erfasste mich eiskaltes Grauen und spielte mit meinem Rückenmark verstecken.
„Aber …“
„Machen Sie sich keinen weiteren Gedanken. So, da sind wir schon. Warten Sie bitte einen Moment, ich hole Sie gleich dazu.“
Wo soll ich denn hin, zusammengeschnürt wie ein Paket.
Ich starrte den langen sterilen Gang herunter. Undeutlich vernahm ich Stimmen hinter der Tür, die vom Doktor und den Besuchern stammen mussten.
Etwas später öffnete sich die Tür ein weiteres Mal und Doktor Frank kam heraus. Ohne ein weiteres Wort beförderte er mich ins Innere. Ich wurde von mehreren Männern in dunklen Anzügen erwartet, die mich neugierig musterten. Sekunden vergingen und so langsam ahnte ich, wie sich ein Tier im Zoo fühlen musste.
„Das, meine Herren, ist Manfred!“ Doktor Frank stand einen Meter neben meinem Stuhl und zeigte Stolz herüber.
„Manfred ist unser erster eigenständig lebender Teilklon.“
Verwirrt sah ich zum Doktor.
„Der Körper eines lebenden Menschen, kombiniert mit dem ersten geklonten und auch funktionierenden Gehirn der Welt …“

2007




Letzte Aktualisierung: 14.04.2024, 14:42 Uhr
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