Vor unserer Zeit

In den alten Zeiten, als es noch keine Uhren gab, bestimmten die Männer, wie lange ein Tag zu sein hatte. Waren sie gerade auf der Jagd, dauerte der Tag eben so lang, wie sie jagten, auch wenn sie bis in die Nacht hinein unterwegs waren. Wollten die Männer aber ihre Frauen zur Arbeit anhalten, riefen sie immer wieder: „Es ist Zeit! Wie lange wollt ihr denn euch noch mit dieser Arbeit aufhalten? Es ist Zeit!“

 

Die Männer konnten den lieben langen Tag machen, was immer ihnen beliebte, die Frauen aber mussten mit hungrigem Magen auf ihre Rückkehr warten.

 

Eines Tages, als die Männer wieder einmal draußen auf der Savanne herumtrödelten, setzten sich einige Frauen zusammen und überlegten, wie sie sich von deren Willkür befreien könnten.

 

 „Letzte Nacht kam mir eine Idee“, sagte Xara, die Frau des Heilers. Die anderen Frauen horchten auf. „Ich wachte plötzlich auf, weil der Mond so hell schien, dass sich mein Mann grunzend vom Licht wegdrehte. Da kam mir ein Gedanke: Wenn sich die Nacht in den Tag verwandeln kann, ohne dass unsere Männer darauf Einfluss haben, denn die schlafen ja ganz offensichtlich, warum bestimmen sie dann eigentlich, wie lang ein Tag zu sein hat und wie lange wir brauchen dürfen, um unsere Arbeit zu machen?“

 

„Xara hat vollkommen recht!“ rief Zusa dazwischen, die schon mehrmals von ihrem Mann übel verprügelt worden war, weil sie seiner Meinung nach bei der Arbeit trödelte.

 

„Das muss ein Ende haben! Kein Mann soll uns mehr hetzen!“ riefen nun auch die anderen Frauen.

 

„Wir brauchen eine andere Zeiteinteilung!“ sagte Xara, „Wer die Zeit regiert, regiert die Welt.“

 

Alle waren sich einig. Eine neue Zeit musste her. Aber woher nehmen? Wieder hatte Xara die entscheidende Idee.

 

„Was wir brauchen, ist eine Zeit, die unabhängig von uns abläuft, eine Zeit, von der Natur selbst hervorgebracht. Wenn ihr einverstanden seid, werde ich schon morgen die Sonne und den Mond fragen, ob sie für uns alle die Zeit vorgeben wollen.“

 

„Aber wie willst du das denn machen“, fragte Ziema, die bisher noch gar nichts in der Versammlung gesagt hatte, „man kann doch nicht einfach zum Mond und zur Sonne hin spazieren wie zu einem Nachbarn und sie um eine Gefälligkeit bitten …?“

 

„Das lasst getrost meine Sorge sein“, antwortete Xara ihr, „ich werde schon einen Weg finden, um mit ihnen zu reden. Aber ich muss auf eure Unterstützung rechnen können; wenn wir zusammenhalten, werden wir es schon schaffen.“

 

Ein paar Tage später setzten sich alle Frauen in einem Kreis zusammen, die Augen auf die Sonne gerichtet, die schon weit im Westen stand. Unmittelbar neben seine strahlende Schwester hatte sich der Mond postiert, blass und fahl noch neben ihrem gleißenden Licht, aber seine Zeit würde noch kommen. Die Frauen senkten in einer simultanen Bewegung ihre entblößten Oberkörper, bis ihre Brüste die Erde berührten. Diese Bewegung wiederholten sie ein ums andere Mal, von einem monotonen, seltsam fremd anmutenden Singsang begleitet.

 

Die heimkehrenden Männer trauten ihren Augen nicht, als sie das sahen.

 

„Man kann diese dämlichen Weiber doch keinen Augenblick alleine lassen!“ brüllte Xava, der Anführer der Jagdhorde, und wollte gleich zwischen sie fahren, um diese eigenartige Versammlung zu sprengen.

 

In diesem Moment wurde es merklich dunkler. Niemand hatte mehr auf den Himmel geachtet, der ein außerordentliches Schauspiel bot. Der Gesang der Frauen wurde lauter und durchdringender, steigerte sich in dem gleichen Maße, wie das Licht der Sonne abzunehmen schien.

 

 „Seht!“ rief Xava entsetzt. Seine Stimme überschlug sich. „Seht nur! Die Sonne wird gefressen!“

 

Der Singsang der Frauen steigerte sich zu einem einzigen wahnsinnigen, schrillen Laut, der die ganze Erde wie eine riesige Glocke erschallen ließ. Die Männer warfen sich angsterfüllt auf den Boden; ihre Speere streckten sie wie eine Opfergabe in Richtung der immer düsterer strahlenden Sonne.

 

„Ein Dämon frisst die Sonne weg“, jammerten die Männer, die so verängstigt waren, dass sie schon gar nicht mehr vom Boden aufzublicken wagten. Wer es dennoch tat, konnte sehen, dass mehr als die Hälfte der Sonnenscheibe schon verdunkelt war; bald schon drohte es endgültig Nacht zu werden, und das mitten am Tage!

 

Da erhob sich Xara aus dem Kreis der Frauen und rief mit sicherer, laut tönender Stimme:

 

„Hört, ihr Männer und Söhne unseres Stammes! Das alles ist nur eure Schuld! Schwester Sonne und Bruder Mond sind böse auf euch! Ich weiß das, denn ich habe mit ihnen gesprochen, und sie waren sehr überrascht, als sie erfuhren, wie wir hier unten die Zeit einteilen. Sie glaubten nämlich, wir würden uns nach ihnen da oben am Himmel richten, wenn es darum ging, wie lange ein Tag und wie lange eine Nacht zu dauern haben. Deshalb beschlossen sie, ein Zeichen zu setzen, um sich uns wieder in Erinnerung zu rufen. Die Sonne sagte, sie könne sich schließlich auch etwas Besseres vorstellen, als den lieben langen Tag am Himmel herumzuhängen. Also überredete sie den Mond, dass sie zusammen Urlaub machen, wenn sie hier sowieso keiner braucht. Und genau das tun sie jetzt auch. Alles nur wegen euch, weil ihr selbstherrlich eure eigene Zeitrechnung eingeführt habt.“

 

Mittlerweile war es vollständig dunkel geworden. Wo vorher noch die Sonnenscheibe in gleißender Klarheit am Himmel stand, gähnte jetzt ein rundes schwarzes Loch am Himmel, ein finsterer Abgrund, der einen sonderbaren rosafarbenen Schimmer um sich herum verbreitete: ein letzter Abschiedsgruß von der Sonne, die sich Hand in Hand mit Bruder Mond aufmachte, die Himmel jenseits der Erde zu erkunden.

 

„Halt! Das könnt ihr doch nicht machen!“ rief Xava entsetzt, der als erster wieder seinen Mut gesammelt hatte.

„Um Himmels Willen, kommt zurück! Ohne euch sind wir doch verloren. Kommt zurück, bitte!“

 

Die anderen Männer lagen immer noch zitternd am Boden und wagten gar nicht erst aufzusehen, so sehr erschreckte sie der Zorn und die Macht ihrer Götter.

 

„Sagt, dass es euch Leid tut, das ihr all die Zeit hindurch die Zeit an euch gerissen habt. Sagt, dass ihr …“

 

Xara musste bald ein Ende finden. Sie wusste, in weniger als einer Minute würde der Mond die Sonne wieder freigeben und die alte Ordnung wäre wieder hergestellt. Diese Zeit musste sie nutzen, solange die Männer noch ganz im Bann dieses Naturereignisses waren.

 

„Von diesem Augenblick an wird es nur noch eine Zeit geben. Die Zeit der Sonne und die Zeit des Mondes und der Sterne. Es wird eine Zeit der Arbeit geben, eine Zeit der Jagd, eine Zeit für die Liebe und das Vergnügen. Und all diese Zeiten werden eine einzige Zeit, über die Sonne und Mond wachen werden.“

 

Alle stimmten zu.

 

„Seht! Die Sonne kommt wieder!“ rief einer der Männer. Nicht lange, und der Mond hatte seine Schwester wieder freigegeben, vor die er sich in brüderlicher Liebe schützend gestellt hatte.

 

Von diesem Tag an wurde alles anders. Die Menschen, insbesondere die Männer, wussten nun, dass sie nur eine begrenzte Zeit auf dieser Erde zu leben hatten. Sie beobachteten gewissenhaft den Lauf der Sonne, des Mondes und der Sterne, um herauszufinden, wann die beste Zeit war zu säen, die beste Zeit Vorräte anzulegen, und wann man sich dem Vergnügen hingeben konnte. Die Sonne herrschte über den Tag; der Mond und seine kleinen Begleiter, die Sterne, hüteten die Nacht, damit sich die Erde und die Menschen und Tiere darauf auch regelmäßig von der Sonne erholen konnten, denn diese tat in all ihrer Großzügigkeit gern auch einmal etwas zuviel des Guten, so dass die Erde ausgetrocknet wäre, wenn ihr Bruder sie nicht nach jedem Tag für ein paar Stunden ins Bett geschickt hätte. So aber, einer den andern vertretend, und doch jeder für sich, machten sie aus der Erde ein blühendes Paradies mit grünen Hügeln, einem Himmel, der von den Rufen der Vögel widerhallte, mit Flüssen und Seen, in denen das Leben nur so wimmelte, und mit dem ruhigen Schweigen der Berge, die aus ihren luftigen Höhen regelmäßig das Wasser über das Land schickten, damit es nicht verdurstete.

 

© Hans Jürgen Kugler, Rohrgraben 13, 79114 Freiburg

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