Die Prophezeiung

Eine Albtraum-Miniatur

Als die Sache passierte, wohnten Corina und ich in einem baufälligen Haus am Stadtrand, wo der Regen durch die glaslosen Fenster in die Gardinen prasselte, sie durchnässte und der Wind den aufgeweichten Stoff auf dem schmutzigen Bretterboden umher schleifte.

Den ganzen Tag lagen wir in dem Bett, das als einziges Möbelstück den ansonsten leeren Raum dominierte und liebten uns zärtlich. Abseits der Gesellschaft hatten wie beide unser Leben geführt, schmarotzten am Zivilisationsmüll und krochen wie Parasiten durch das Fell der Gesellschaft. Uns gefiel dieses Leben als Außenseiter, obwohl es oft sehr hart war. Doch unsere gegenseitige Liebe half über die Widrigkeiten hinweg.

Im Sommer teilten wir den Raum mit unzähligen Fliegen und Wespen, welche ihre Nester in die schimmeligen Wände bauten, um ihre Nachkommen aufzuziehen. Doch nun war es Spätherbst und die ausgetrockneten Leichen hingen in den zerfetzten Gardinen und waren auf dem brüchigen Holzboden verteilt. Einige zuckten noch mit den Insektenbeinen.

Im Angesicht des verlöschenden Lebens um uns herum, gestand mir Corina, dass sie schwanger war.

Abrupt setzte ich mich im Bett auf und starrte sie an. Ihr Gesicht wirkte ruhig und in ihre Augen schlich ein entrückter Blick.

„Das ist ja...fantastisch!“, jubelte ich und fror innerlich ob meiner Lüge.

Corina lächelte.

„Ich wusste, dass du das sagen wirst. Welchen Namen wollen wir unserem Kind geben?“

Ich runzelte die Stirn und dachte nach. Doch so sehr ich auch in meinem Inneren forschte, mir kamen nur gewöhnliche Namen in den Sinn. Dabei sollte unser Kind doch etwas besonderes sein, anders als die Millionen Kinder in der Gesellschaft um uns herum.

Corina bemerkte mein Zögern, zog sich die Bettdecke um und stand auf. Wie mit einer königlichen Schleppe umwunden schritt sie zum Fenster und teilte die nassen Gardinen. Um nicht nackt und frierend auf dem Bett zurück zu bleiben, schwang ich mich auf und eilte ihr hinterher. Sogleich schlüpfte ich zu Corina unter das Laken und beide standen wir schweigend im Anblick des Sturmhimmels versunken, durch welchen hier und da ein Stern blinkte. Einer davon stach besonders hervor.

„Unser Kind soll Abendstern heißen!“, flüsterte Corina ohne den Blick vom Nachthimmel zu nehmen.

„Was für ein wunderschöner Name“, pflichtete ich ihr bei.

Meine Geliebte legte ihren Kopf an meine Schulter. Ihr verschwitztes Haar kitzelte mich, als es in braunen Strähnen über meinen Brustkorb fiel. Ich nahm Corina in den Arm, streichelte ihren Bauch, der die Frucht unserer Liebe barg und hielt meine Liebste fest.

Bald fröstelte sie und eine Gänsehaut überlief ihren schlanken Körper unter der Decke. Sie drängte mich zurück zum Bett. Bald lagen wir wieder eng umschlungen aneinander.

„Weißt du“, begann Corina, „dass unser Kind etwas besonderes ist?“

Ich nickte und strich eine braune Locke aus ihrer Stirn.

„Nicht weil wir anders als alle sind, sondern weil es anders als ALLE sein wird!“, betonte Corina.

Mir fiel nichts ein, was ich darauf erwidern konnte und so schwieg ich. Verlegenes Lächeln.

Corinas Blick schien der Welt vollständig entrückt. Sie blickte ins Zimmer, fuhr mir mit ihren schlanken Fingern durch das blonde Stoppelhaar und ertastete das umgedrehte Kreuz, das an einer kleinen Kette von meinem Ohrstecker herabhing.

„Ja, vieles wird sich bald verändern, Geliebter. Freue dich, denn du wirst mit mir zusammen Zeuge einer alles umwälzenden Veränderung sein!“

Ich verstand kein Wort. Sooft wir auch über die Verbesserungswürdigkeit dieser Welt diskutiert haben, so machte mich Corinas Rede nun im Angesicht ihres Zustands zweifeln, ob sich überhaupt jemals etwas ändern würde. Vor einem Jahr noch lag ihr der Gedanke an ein Kind so fern wie der Abendstern am Himmel und heute nun...? Was würde sich noch alles ändern? Je mehr ich darüber nachgrübelte, desto mehr erkannte ich, dass ich bereit war, alles zu glauben, was Corina sagte. Es würde sich vieles verändern – aber doch bei weitem nicht alles. Unsere Liebe zum Beispiel bliebe bestehen.

Ich sagte ihr das und sie lächelte ein Lächeln, das wie ein Spiegelbild von jenseits der Welt zu kommen schien, so fremdartig wirkte es auf ihrem Gesicht.

„Sicher doch – aber höre mir gut zu...“

Ihr Gesicht, das nicht mehr das ihre zu sein schien, beugte sich zu mir herüber. Ihre hohen Wangenknochen umspielte ein flackernder Schatten, der nicht von der schwachen Kerzenflamme neben dem Bett hervorgerufen sein konnte.

In den nächsten Minuten, während derer Corinas Lippen nahe an meinem Ohr leise Worte der Prophezeiung hauchten, erfuhr ich das Schicksal der Welt. Ich hörte von schwarzverschleimten Orten und geheimen Zeichen auf Türen, welche sich nur für denjenigen öffneten, der die Riten kannte. Corinas Mund (war das noch Corina, oder war das jemand anderes?) flüsterte von Falltüren, wohinter ein bodenloser Schlund seinen bestialischen Brodem verströmte, redete von Zeichen am Himmel und von den mysteriösen Formen der Moosflecken auf bestimmten Bäumen im Herbst, welche in der Gesamtheit demjenigen, der sie zu lesen versteht, mehr Weisheiten verkünden als verbotene Bücher in der vergrabenen Bibliothek von Alexandria.

In mir kroch die Angst wie eine kalte Schlange durch die Eingeweide. Wenn das die Veränderungen waren, welche kommen würden, dann wollte ich sie nicht haben. Das sagte ich auch Corina.

Sie lehnte sich zurück und der fremde Einfluss auf ihrem Gesicht schwand. Ich fragte mich, ob Ungeborene den Geist der Mutter übernehmen können und zuckte zurück. Doch Corina lächelte nur. Diesmal war das Lächeln echt.

„Hab keine Angst. Es wird alles gut werden. Diese Welt hat nichts anderes verdient als das große Zerwürfnis, den finalen Schwanengesang der Sterne!“

Ich wollte sagen, dass das nicht stimme, dass dies alles vor vielen Wintern auch ich dachte. Eine Wut auf die Gesellschaft, geboren aus dem Gefühl des Ausgestoßen-Seins, das sich in Verachtung für alles und jeden gewandelt hatte. Doch wiederum schwieg ich aus Feigheit vor Corina, denn ich fürchtete ihre Zornausbrüche, welche stets unsere stille Übereinkunft des Hasses durcheinander brachten.

Aber sie erfühlte, dass etwas nicht stimmte. Ihr Augen bekamen einen merkwürdigen Glanz, ganz so, als ob sie im Begriff waren Tränen zu vergießen. Aber Corina weinte nicht. Sie weinte nie. Seit ihrem zehnten Lebensjahr, so hatte sie mir gestanden, als die Sache mit dem Onkel passiert war.

Sie sah mich nur an, mit diesen wunderschönen grünen Augen, und ein Zittern kam in ihre Lippen. Mehr nicht. Ich wandte mich ab, zog meine Kleider an und ging wortlos aus dem Zimmer, begleitet vom Luftzug, der durch das glaslose Fenster pfiff.

Auf der Treppe hörte ich Corina seufzen. Ich achtete nicht weiter darauf, sondern begann die wurmstichigen Stufen hinabzugehen. Ratten eilten mir voraus und suchten die Dunkelheit, welche von einer Öllampe verscheucht wurde, die auf dem unteren Treppenabsatz stand. Hinter mir hörte ich ein kurzes Schleifgeräusch, dann Corinas nackte Füße, die über den kalten Boden trippelten.

Ich wollte gehen, wollte diesen Ort so schnell als möglich verlassen, wollte Corina und das Kind verlassen, beide nicht mehr wieder sehen. Doch sie hatte es geahnt.

Ich drehte mich in der Mitte der Treppe um und griff an den Handlauf, um mich abzustützen. Zwei Stufen weiter oben stand Corina, einen Fetzen aus Gardinenstoff um die Schultern. Ihr Gesicht zuckte. Ob dies vom flackernden Schein der Öllampe herrührte oder aus einer inneren Erregung heraus geschah, vermochte ich nicht zu sagen. Ihre Augen blieben hingegen kalt und unbewegt. War dies noch meine Geliebte, die ich seit Jahr und Tag kannte? Ihre Gesichtszüge schienen verändert zu sein, und doch erkannte ich in ihnen die Liebe meines Lebens wieder.

„Du kannst nicht gehen“, sagte sie und zog den Stoff enger um ihren Körper. Die Finger ihrer linken Hand ragten daraus hervor.

„Ich muss es tun, Corina. Ich kann nicht weiter mit dir zusammen sein – nicht mit dem Wissen, das du mir heute Nacht eingeflüstert hast“, stammelte ich verlegen.

Corinas Mund verzog sich zu einer Fratze des Hasses.

„Dann hast du deine Chance vertan. ES will nicht, dass das Wissen weitergetragen wird. Nur so kann sich die Prophezeiung vollenden!“

Sie schleuderte den Umhang fort, riss den rechten Arm nach hinten. Ich sah in ihren kalten Totenaugen was sie vorhatte und konnte doch nichts weiter tun, als dazustehen und zuzusehen, wie in Corinas Hand ein Gegenstand kurz im Lichtschein auftauchte, ehe der Schatten ihres Kopfes ihn verbarg, da Corina den Arm nach hinten bog. Entsetzen keimte in meiner Seele. Und noch bevor ich reagieren konnte, fauchte der metallene Blitz des Küchenbeiles gegen meinen Hals und beendete alles in einem feuchten Regen aus warmer Röte.

Markus K. Korb